AMNESTY Magazin Nr. 110, Juni 2022

Ukraine

Kriegsverbrechen
auf der Spur

Das Evidence Lab analysiert Inhalte aus den sozialen Medien und weiteren Quellen, um mögliche Kriegsverbrechen in der Ukraine zu dokumentieren. Ein Bericht über die Arbeit dieses Amnesty-Teams.

Von Jean-Marie Banderet

Auch drei Wochen nach den Bombenangriffen auf Borodianka, etwa 40 Kilometer nordwestlich von Kiew, werden noch Leichen ziviler Opfer geborgen. Doch je mehr Zeit vergeht, umso schwieriger wird es herauszufinden, was genau mit den Menschen am 1. März 2022 in dieser Kleinstadt geschah – denn viele Beweismittel sind bereits verschwunden. Die Amnesty-Researcherin Donatella Rovera hat sich vor Ort begeben, um die Zerstörungen zu dokumentieren und Zeug*innen-Aussagen zu sammeln. Um sie zu unterstützen, sammelt und analysiert das Evidence-Lab-Team online verfügbare Inhalte.

Das Evidence Lab ist Teil des Krisenreaktionsprogramms von Amnesty International. Das Team von Spezialist*innen, das Milena Marin leitet, hat seit Beginn des Krieges in der Ukraine viel zu tun. Innerhalb von zwei Monaten wurden mehr als 1000 Open-Source-Inhalte gesammelt, die in sozialen Netzwerken aufgetaucht sind. Durch das Zusammenfügen und Kombinieren dieser Ressourcen konnten bereits rund 50 verschiedene Ereignisse dokumentiert werden. Allesamt potenzielle Kriegsverbrechen.

Das Haus 429 am Ende der  zentralen Strasse von Borodianka, einige  Stunden vor dem Luftangriff. Im  Vordergrund steht ein – offenbar  russischer – Lastwagen.

Das Haus 429, erkennbar an seiner unregelmässigen Fassade, fotografiert 2015 von Google.

Das Haus 429 kurz nach dem Bombenangriff am Abend des 1. März.

Vertiefte Bildanalyse

Das Team ist gerade dabei, Fotos, GPS-Koordinaten und Listen vermisster Personen aus Borodianka zu suchen und zu analysieren. Auch Aussagen von Überlebenden der Luftangriffe auf fünf Wohnhäuser werden hinzugezogen. Dabei wurde bereits aufgedeckt, dass russische Truppen schon am 25. Februar vor Ort waren – lange bevor die Stadt im Rahmen der Offensive auf die ukrainische Hauptstadt eingenommen wurde.

Wie sie arbeitet, zeigt uns die Open-Source-Spezialistin Ray Adams Row Farr, die die Recherchen leitet: Um die Zerstörungen in Borodianka zu rekonstruieren, durchforstet Ray das Internet und soziale Netzwerke nach Aufnahmen von User*innen. «Mithilfe von InVID, einer Software, mit der man Twitter nach Multimedia-Inhalten durchsuchen kann, fand ich ein Bild vom 1. März um 16.17 Uhr Ortszeit: Es zeigte eines der Gebäude, an denen wir interessiert sind», sagt die Forscherin. Deutlich ist ein intaktes Gebäude mit einer besonderen Fassade zu sehen – für den Zweck der Untersuchung wird es den Namen Haus 429 erhalten. Im Vordergrund sieht man einen mit Raketenwerfer-Rohren beladenen brennenden Lastwagen, auf den ein weisses V gemalt wurde – ein Hinweis, dass es sich wohl um ein russisches Fahrzeug handelt.

Haus 429

Der nächste Schritt besteht darin, das Bild zu verifizieren: Der Ort der Aufnahme kann am besten überprüft werden, indem dieses Bild mit ande ren Hinweisen abgeglichen wird, beispielsweise mit den von Donatella Rovera eingesandten Bildern, die GPS-Daten enthalten, aber auch mithilfe von Google Street View, Yandex.Maps und weiteren Online-Karten. «Die russische Suchmaschine Yandex liefert für die Ukraine die besten Ergebnisse, sowohl bei Bildern als auch bei detaillierten Karten», sagt Ray Adams Row Farr. Anhand der gut sichtbaren Unterschiede in der Fassadenbemalung des abgebildeten Gebäudes wird rasch klar: Es handelt sich tatsächlich um das Haus 429 beim Verkehrskreisel der Borodianka-Allee. Nun geht es um das Datum, vielleicht sogar die Uhrzeit der Veröffentlichung des Bildes: «Mithilfe der sogenannten Reverse-Image-Suche können wir weitere Versionen desselben Bildes im Internet finden», erklärt Milena Marin. Wenn kein Ergebnis der Suche übereinstimmt, bedeutet dies, dass das untersuchte Bild zum ersten Mal gepostet wurde.

Ein Video, das am 1. März etwa sechs Stunden vor den Angriffen auf Twitter auftauchte, scheint zu bestätigen, dass russische Truppen vor der Bombardierung vor Ort waren. Es zeigt einen russischen Panzer, der ebenfalls mit einem weissen V markiert ist und auf dem Soldaten sitzen. Zwei von ihnen feuern Schüsse direkt in die Richtung der filmenden Person ab. Um auch hier den Ort der Szene zu bestimmen, sucht das Team nach weiteren Hinweisen im Video: Gebäude, Farben, Bäume, Strassenschilder, Plakate, Schatten, Beschriftungen. Diese werden mit Kartendaten und Bildern abgeglichen. Das Schild eines Geschäfts, an dem der Panzer vorbeifährt, und die besondere Form der Eingangstür und der Fenster ermöglichen es, den Ort der Szene zu bestimmen. Wieder handelt es sich um den Verkehrskreisel an der Allee, direkt vor dem Gebäude 429.

Mit diesen Aufnahmen wird deutlich, wie das Gebiet vor den Anschlägen aussah. Ein weiteres Video, das am 1. März um 19.17 Uhr Ortszeit gepostet wurde, zeigt denselben Verkehrskreisel in einer 360°-Aufnahme weniger als zwei Stunden nach dem Angriff. Das brennende Gebäude 429 ist aufgrund der Fassadenbemalung deutlich zu erkennen, wie auch das Geschäft aus dem Video.

In dieser Sequenz tauchen mehrere visuelle Hinweise auf. Die Form der Fenster im Hintergrund, das Vordach über der Eingangstür und die Form des zweiten Gebäudes, an dem der Panzer vorbeifährt, ermöglichen es, den Standort der russischen Truppen zu ermitteln.

Der russische Panzer fuhr auf diesem Kreisverkehr an diesem grünen Gebäude vorbei, das sich gegenüber von Haus 429 befindet.

Ein Puzzle von Hinweisen

Bei diesen Ermittlungen arbeitet das ganze Team Hand in Hand. Mit dabei sind auch der Waffenexperte Brian Castner, die Spezialistin für Satellitenaufnahmen Micah Farfour und die Researcherin Donatella Rovera, die über Kenntnisse des Geländes verfügt. «Brian ist in der Lage, Militärfahrzeuge oder andere Waffenteile genau zu identifizieren. Das ist besonders wichtig in einem Krieg, in welchem ein Grossteil der Waffen beider Seiten aus sowjetischer Produktion stammt», sagt Milena Marin. Um die Verwechslungsgefahr zu minimieren, hält sich das Evidence Lab über den Verkauf von Rüstungsgütern auf dem Laufenden – in diesem Fall über russisches Material, das an die Ukraine verkauft wurde. Die auf russische Fahrzeuge aufgemalten Erkennungszeichen geben Aufschluss darüber, zu welchen Bataillonen sie gehören. Es kommt jedoch wiederholt vor, dass Ausrüstung der einen Seite von der anderen Seite erbeutet und verwendet wird, was die Identifizierung der Streitkräfte erschwert. In diesem Fall wird anhand ihrer Position, der Dauer ihrer Anwesenheit vor Ort und der Richtung, in die die Kanonen zeigen, festgestellt, wer dieses Kriegsmaterial gerade im Einsatz hat.

In Borodianka wird das Panzermodell, das auf dem Video zu sehen ist, sowohl von Russland als auch von der Ukraine eingesetzt. Hier kommt Micah Farfour ins Spiel. Anhand von Satellitenbildern kann sie bestimmen, seit wann sich solche Fahrzeuge in dem Gebiet befanden. Diese Informationen werden wiederum mit weiteren Daten zur russischen Invasion verglichen. Hinzu kommen die Aussagen der Menschen vor Ort. Langsam fügt sich das Puzzle zu einem Bild zusammen.

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Mehr dazu

Eine 360°-Visualisierung der Beweise, die während dieser Untersuchung gesammelt wurden, ist unter dieser Adresse verfügbar (in Englisch).

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